Das Märchen der fiesen Herausforderung

Es war einmal...

… ein kleines Mädchen mit schönen langen Haaren, die ganz häufig tolle Kleidchen trug und deren liebste Beschäftigung war es mit ihren Puppen zu spielen. Aber nicht so wie jedes andre kleine Mädchen, sondern sie ließ sie ganz schön heftige Horrorgeschichten und Fantasiegeschichten erleben. Nicht nur einmal wurde einer solchen Puppe mitten im Spielen und Träumen der Kopf abgerissen oder „nur“ die Hand abgebissen.

Ihre Mama ließ sie gewähren, auch wenn sie sie immer wieder einmal deswegen schimpfte. Und so durfte sich das kleine Mädchen immer in ihrer Fantasiewelt bewegen.

Bis das kleine Mädchen eines Tages in die Schule kam. Sie wurde wegen ihrer Fantasie immer wieder komisch angeschaut von den Klassenkameradinnen und Klassenkameraden und zog sich langsam immer mehr zurück. Zurück aus ihrer Fantasiewelt. Stattdessen spielte sie mit den Nachbarskindern auf der Straße so ganz normale Spiele wie Völkerball, Gummi-Twist und andres. Sie wurde immer ruhiger in sich. Nur dann nicht, wenn sie mit anderen Kindern spielte. Hier wurde sie immer aufgedrehter, immer brutaler. Sie hatte ihre Fantasie ins reale Leben verlagert.

Es dauerte nicht allzu lange, bis sie die Volksschule verließ und auf das Gymnasium kam. Hier war auch alles wie vorher. Aber die Fantasie regte sich wieder. Und eines Tages passierte etwas schreckliches für das kleine Mädchen. In der Deutschstunde sollte sie, wie alle andren in der Klasse, einen Aufsatz schreiben. Etwas, was das kleine Mädchen mit ihrer Fantasie problemlos konnte. Sie schrieb über Wolfgang Amadeus Mozart. Ein ganz schön wichtiges und gewichtiges Thema für so eine kleine Sechstklässlerin. Nur mit dem großen Unterschied, dass es sich bei Wolfgang Amadeus nicht um diesen Musiker mit der weißen Perücke handelte, sondern um eine kleine Maus, die komponierte.

Es geschah, was geschehen musste. Der Deutschlehrer rief ihre Mama zum Rapport. Und er erklärte ihr, dass das ab sofort unterbunden werden müsse. Und er gab ihrer Mama eine große Aufgabe: „Sie lesen ihrer Tochter ab sofort jeden Tag einen kurzen Artikel aus der Zeitung vor und diesen muss sie wortgetreu, soweit ihr das möglich ist, schriftlich wiedergeben.“

Eine große, wirklich fiese Herausforderung. Die größte, die sie jemals bewältigen musste.

Jeden Tag bekam sie Artikel aus der Zeitung vorgelesen, den sie wiedergeben musste. Jeeeeden Tag. Die Mama von dem kleinen Mädchen versuchte alles, damit das kleine Mädchen ihre Fantasie verlor. Hatte sie das doch von dem Deutschlehrer so aufgetragen bekommen. Monatelang übte und schrieb sie mit dem kleinen Mädchen, dem so nach und nach die Fantasie ausgetrieben wurde. Die Fantasie verkümmerte.

Aus dem kleinen Mädchen wurde ein großes Mädchen und als es darum ging, sich zu entscheiden, was sie denn gerne werden möchte, träumte das kleine Mädchen wieder. Stewardess wollte sie werden. Reisen. Ganz viel unterwegs sein. Die Träume wurden groß und größer. Bis sie eines Tages die harte Realität aufwachen ließ. Sie war doch nur 1,58 m groß und für eine Stewardess hatte es zu diesem Zeitpunkt eine Mindestgröße ohne Schuhe von 1,65 m. Der Traum zerplatzte.

Also wurde neu gesucht. Aber nicht mehr geträumt, sondern realistisch überlegt. Etwas, was dem mittlerweile großen Mädchen richtig schwer fiel. Eine riesige Herausforderung. Diesmal half Mama wieder und sie meinte „Willst du nicht etwas Gescheites werden? Einen kaufmännischen Beruf lernen beispielsweise?“ Das Mädchen nickte, weil ihr doch fast nichts anderes übrig blieb, und mit Mamas Hilfe und deren Vitamin B bekam sie eine Lehrstelle in einer Bank und wurde Bankkauffrau. Analytisch, klar, fantasielos, aber dafür mit netten Menschen um sie rum. Es fing an dem Mädchen Spaß zu machen Kunden zu beraten. Jahrelang ging es so und dem mittlerweile erwachsenen Mädchen fehlte nichts.

Aber irgendwie war es ganz schön langweilig so ein Leben ohne Träume, ohne Fantasie. Sie fing an immer etwas völlig anderes nebenher noch zu machen. Etwas, was ihren Kopf aus der langweiligen Bankenwelt herausbeförderte. Herausforderungen fand sie nur darin, wenn sie sich entweder einen neuen Job suchte oder etwas Neues außerhalb dessen begann. Das Mädchen wurde immer besser darin die Herausforderungen in ihrer fantasielosen, realistischen Welt zu meistern.

Irgendwann bestanden die Herausforderungen eher darin, die innerliche Langeweile in dem Mädchen zu ertragen.

Eines Tages schenkte ihr das Schicksal einen deutlichen Wink.

Das mittlerweile wirklich erwachsene Mädchen sah diesen Wink und dachte sich „Das probiere ich einfach einmal aus.“ Sie war nämlich einer Traurednerin über den Weg gelaufen, die auch ausbildete. Und das Mädchen hatte sich nur gedacht „Ich will wissen, wie das geht. Vielleicht macht mir das ja Spaß.“ Und ja, es hatte ihr Spaß gemacht. Aber die alte Fantasie war noch nicht wieder da. Jede einzelne Rede, die sie danach hielt, war noch immer eine Herausforderung. Eine, die sich zwar im Laufe der Zeit normalisierte. Aber eigentlich eher, weil das Mädchen einen eher festen Stil hatte, der zwar kreativ war, aber trotzdem nicht zu viel Fantasie beinhaltete. Durfte sie ja wahrscheinlich auch nicht haben. Geht ja um das bisher gelebte Leben eines Paares. Dachte sie jedenfalls.

Aber eines kam zum andren und so fing sie auch an Trauerreden zu halten. Nüchtern, realistisch, und doch lebensnah. Wenn sie sich heute diese ersten Reden durchliest, durchfährt sie manchmal ein Schauer. Das Schicksal wollte es aber anders. Die mittlerweile erwachsene Frau in der Mitte ihrer Fünfziger lernte Menschen kennen, die das Gleiche machten wie sie. Die anders dachten. Die sie durchrüttelten. Die ihr zeigten, dass Fantasie in solchen Reden durchaus verwendet werden darf. Und man erzählte ihr immer wieder von einem Seminar, dass sie doch besuchen sollte. Auch das Internet spülte ihr dieses Seminar mit Postings immer wieder vor ihr Auge. Das sollte wohl so sein, denn sie besuchte dieses Seminar und es machte in ihr „klick“. Da war sie wieder, diese Fantasie. Lange war sie doch versteckt gewesen. Aber langsam suchte diese sich wieder ihren Weg nach oben. Erst in den Kopf und noch deutlicher ins Herz der Frau.

Nach einer Weile war sie wieder da, die Fantasie. Eine richtig fiese Herausforderung war es gewesen, diese wieder zuzulassen. Der Druck ihrer Mama und ihres Deutschlehrers, die beide mittlerweile verstorben waren, lasteten noch immer auf ihrer Seele. Aber sie schwamm sich frei. Sie übernahm Verantwortung für sich und ihre Fantasie. Sie erzählte in ihren Trauerreden von Samurais und Mut, von Campingtouren, von Reisen mit dem Rovos Rail, von Pferdekarussellen, von Sushi, von der Sonne, von Zauberern und noch ganz vielem mehr. Ihre Auftraggeber waren begeistert von dieser Art Trauerreden zu halten. Es kamen immer mehr Ideen in ihren Kopf.

Die Herausforderungen waren auf einmal ganz anderer Art. Wie mache ich was? Wann mache ich was? Wie gehe ich mit meinen eigenen Gefühlen um auf einer Trauerfeier? Aber Herausforderungen sind dazu da, gemeistert zu werden. So dachte es sich auf jeden Fall die Frau. Und sie meisterte sie alle, die bisher aufgetaucht waren. Ganz häufig fragte man sie nach ihrer Meinung und um Hilfe.

Eines Tages entschied sie sich, dass sie genau das alles anderen auch beibringen möchte. Dass sie andere Trauerrednerinnen und Trauerredner davor bewahren möchte, all diese Herausforderungen selber machen zu müssen. Damit diese keine fiesen Herausforderungen erleiden müssen. Weil sie selber doch so verdammt viele dieser fiesen Herausforderungen erlebt hatte. Weil sie beispielsweise im Wald stand mit einhundert Trauergästen und niemand eine Musikanlage hatte und ein Mikrofon. Oder weil sie erlebte, wie doof es ist, wenn es regnet und man seinen eigenen Text nicht mehr lesen kann, weil er verlaufen ist. Oder weil sie vor den Eltern eines kleinen Sternenkindes stand und diesen riesigen Kloß im Hals spürte, der sie fast nicht weitersprechen ließ. Weil ihr so oft die Tränen runterliefen, wenn ein Tod und die Trauer um diesen Menschen so unheimlich berührte. Und so bildet sie angehende Trauerredner bereits seit über zwei Jahren aus. Eine fiese Herausforderung ist das keine mehr für sie.

Und wenn sie nicht gestorben ist, dann macht sie das auch weiterhin…

Nach oben scrollen